- Mit Einzug des Alltags warfen Stevie und ich auch unsere bewährte Alltagsbewältigungsmaschine wieder an, den gepflegten Zynismus.
- -- Jess Jochimsen, "Bellboy"
Jess Jochimsen ist für mich so etwas wie der "Meister der Kurzgeschichte meiner Generation". Nachdem er
zwei Bücher mit Kurzgeschichten veröffentlicht hat folgte nun schon vor einiger Zeit sein erster abendfüllender Spielfilm, äh
Roman.
Wieder einmal schafft er es geschickt Fiktion und Realität zu mischen. In seinen Kurzgeschichten verarbeitet er gerne Kindheits- und Jugenderinnerungen, von denen er nie genau sagt, wie authentisch sie sind. Bei "Bellboy" hingegen sind die Personen Fiktion und Jess heißt auch nicht mehr Jess, sondern Lukas. Das Ganze spielt im "Jahrhundertsommer" 2003: Lukas, dem seine Herkunft und seine Vergangenheit nicht allzuviel bedeutet, bekommt plötzlich Besuch von seinem Cousin Paul, den er mehr als zehn Jahre nicht mehr gesehen hat. Jedoch verhält sich Paul seltsamer als Lukas ihn aus seiner Jugend her kannte.
Im Verlauf der Geschichte stellt sich heraus, dass er an einer Art "Jugend-Alzheimer" leidet. Da sind sie also: Lukas will eigentlich seine Vergangenheit vergessen, oder eher hinter sich lassen, und kann es nicht; und Paul will eigentlich nicht vergessen, tut es aber bedingt durch seine Krankheit. Den Ruhepol zwischen den beiden bildet Stevie, ein schwuler evangelischer Pfarrer, Arbeitgeber von Lukas. Soviel zur Rahmenhandlung, in der die Geschehnisse dieses Sommers aufgehängt sind. Einige "Episoden" bringen die Rahmenhandlung voran, andere sind einfach nur Erlebnisse des Trios.
Zwei Anmerkungen zu Einzelheiten aus diesem Buch wollte ich noch loswerden:
- Ich habe in diesem Buch eines meiner Lieblingsworte gelernt, und zwar eine umgangssprachliche Beschreibung für Sitzheizung: "Mösenstövchen". Danke, Jess.
- Es gibt in dem Buch die Erfindung eines "Beichtbuches". Stevie findet es schade, dass es keine Beichte in der evangelischen Kirche gibt, und regt an, doch etwas ähnliches wie eine Beichte in ein Heft zu schreiben, aus welchem dann zu mehr oder weniger besonderen Anlässen Auszüge vorgetragen werden. Irgendwie erinnert mich das Ganze ganz schön an Blogs. Zufall?
Der Vergleich von "Bellboy" mit "Dosenmilchtrauma" und "Flaschendrehen" ist ungefähr so wie der von "Ich heirate eine Familie" mit "Traumschiff" oder "Jacob und Adele". Während bei ersteren "das Leben" zwar in Episoden statt findet, so sind sie doch nicht frei vom Kontext des Vorhergegangenen. Bei letzten sind diese jedoch frei von diesem Kontext und werden nur von ein paar bekannten Personen "zusammengehalten". Also wirkt die "Rahmenhandlung" von "Bellboy" ein wenig wie ein Korsett: es engt zwar ein, stützt aber auch das was da drin ist. Obwohl "Bellboy" ein durchaus empfehlenswertes Buch ist, so gefallen mir die Kurzgeschichten von ihm doch besser, aber mir gefiel auch "Jacob und Adele" immer besser als "Ich heirate eine Familie".
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